Am 9. Juni 2024 fanden in Deutschland die Gemeinderats‑, Kreistags und Europawahlen statt. Die Ergebnisse dieser Wahlen waren für Bündnis 90/die Grüne Partei, die seit Dezember 2021 Teil der Ampelkoalition ist, ernüchternd. Die Wahlergebnisse zeigen einen deutlichen Rückgang der Unterstützung: Im Kreistag Bodenseekreis sank der Stimmenanteil von 22,3 % im Jahr 2019 auf 14,3 % im Jahr 2024. Ähnlich verhielt es sich im Gemeinderat Friedrichshafen, wo die Grünen von 20 % auf 15 % fielen. Bei der Europawahl in Deutschland war der Rückgang noch dramatischer: von 20,5 % im Jahr 2019 auf 11,9 % im Jahr 2024.
Diese Ergebnisse werfen die Frage auf: Was ist schiefgelaufen? Die Antwort darauf ist komplex und vielschichtig. Einerseits gibt es diejenigen, die die Schuld ausschließlich bei der Regierung suchen, zu der die Grünen gehören. Andererseits gibt es Stimmen, die die Regierung als Opfer der globalen Umstände sehen, die seit ihrer Amtsübernahme im Dezember 2021 herrschen.
Die Grünen haben zweifellos hohe, gesunde und moralische Prinzipien. Doch die Realität der letzten Jahre hat gezeigt, dass Idealismus allein nicht ausreicht, um die Herausforderungen einer Regierungsverantwortung zu meistern. Der Ukraine-Krieg, der im Februar 2022 ausbrach, nur zwei Monate nach der Regierungsbildung, hat die politische und wirtschaftliche Landschaft Europas grundlegend verändert. Die daraus resultierende Energiekrise, die Unterbrechung der Gaslieferungen aus Russland und die Asylkrise, bei der bis Mitte dieses Jahres mehr als eine Million ukrainische Menschen in Deutschland Zuflucht suchten, haben die Regierung vor immense Herausforderungen gestellt. Hinzu kommt die Inflation, die nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa getroffen hat. Die steigenden Warenpreise und die sich verschärfende Immobilienkrise haben das Leben vieler Bürger erschwert. Die Corona Maßnahmen, die erst im April 2023 endeten, haben ebenfalls ihren Teil zur allgemeinen Unzufriedenheit beigetragen.
Doch bedeutet dies, dass die Grünen keine Fehler gemacht haben?! Natürlich nicht.
Ein Fehler war die mangelnde Berücksichtigung der Mittelschicht, die die Mehrheit der Bevölkerung repräsentiert. Die Steuerpolitik und die geringe Gehaltserhöhung hatten kaum positive Auswirkungen auf diese Gruppe, da sie durch die steigenden Lebenshaltungskosten nahezu aufgezehrt wurden.
Und ein anderer Fehler war die überstürzte Umsetzung bestimmter Entscheidungen. Sie waren nicht erfolgreich, auch wenn die Absichten gut waren und den Umwelt- und Klimaschutz betrafen. Diese Maßnahmen hätten besser vorbereitet werden müssen. Ein Beispiel dafür ist das Heizungsgesetz. Ein weiteres Beispiel ist der Plan, Steuervergünstigungen beim Agrardiesel und bei der Kraftfahrzeugsteuer für die Bauern zu streichen. Wäre diese Entscheidung umgesetzt worden, hätte sie für die Landwirte eine massive finanzielle Belastung bedeutet. Die Rahmenbedingungen waren bereits durch die Corona-Krise und den Ukraine-Krieg belastet. Es wäre besser gewesen, die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger ernst zu nehmen und ihnen die Notwendigkeit der Maßnahmen ausführlich zu erklären. Wenn wir ein Projekt genehmigen oder durchführen wollen und den Bürgerinnen und Bürgern Verluste oder zusätzliche Kosten vollständig entstehen, müssen wir sie im Gegenzug finanziell entschädigen. Wir sollten den Weg dafür ebnen, indem wir unseren Zweck und unser Ziel des Projekts erklären, direkt mit den Bürgerinnen und Bürgern kommunizieren und alle Medien und sozialen Medien nutzen, um ein Umfeld zu schaffen, das unsere Maßnahmen versteht und akzeptiert.
Und auch ein anderer Fehler; Im Bereich Einwanderung und Asyl gab es Versäumnisse. Unser Engagement als Grüne in der Frage des Asyls bezieht sich auf das Menschenrecht und die moralische Pflicht. Doch es fehlte parallel an einer Strategie zur Schaffung eines geeigneten Umfelds und zur Schließung von Gesetzeslücken. Die große Zahl von Asylanträgen (im Jahr 2024 wurden in Deutschland bis Ende Juni rund 121.000 Asylanträge gestellt) und die Überbelegung von Erstaufnahmezentren und Gemeinschaftsunterkünften stellen uns vor Herausforderungen. Hinzu kommen Personalmangel und dadurch langwierige Verfahren, die auch Abschiebungen bei abgelehnten Asylanträgen betreffen. Dies belastet das System und provoziert den Zorn der Steuerzahlenden, insbesondere in einer wirtschaftlichen Situation, die von Inflation geprägt ist.
Auf der anderen Seite hätte ”das Gesetz zur Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung”. Gang gebracht werden können und dabei praktischer und unbürokratischer gestaltet werden müssen. Denn unser Land ist für qualifizierte Arbeitskräfte immer noch nicht attraktiv genug ist.
Schließlich war ein besonders schwerwiegender Fehler das Medienversagen. Wir haben es versäumt, unsere Ziele und Maßnahmen den Menschen aller Gesellschaftsschichten verständlich zu machen. Wir haben die gegen uns gerichteten Kampagnen ignoriert und unsere eigene Medienstrategie vernachlässigt.
Die Bundestagswahl 2025 rückt näher, und wenn wir nicht aus unseren Fehlern lernen, ist ein weiterer Verlust unvermeidlich. Doch es gibt noch Hoffnung. Der Weg zur Besserung beginnt mit konstruktiver Selbstkritik und dem Zuhören auf die Stimme der Straße. Es ist an der Zeit, Experten und Spezialisten einzusetzen und die Prinzipien der Partei mit den realen Bedürfnissen der Bürger in Einklang zu bringen.
Wir stehen an einem Scheideweg. Wir haben die Möglichkeit, aus unseren Fehlern zu lernen und gestärkt daraus hervorzugehen. Doch dazu bedarf es Mut zur Selbstreflexion und die Bereitschaft, sich den Herausforderungen der Realität zu stellen. Nur so können wir das Vertrauen der Bürger zurückgewinnen und ihre Vision einer besseren Zukunft verwirklichen. Wir hätten den Medien und den sozialen Medien in Bezug auf Quantität und Qualität große Bedeutung beimessen müssen und alle Segmente der Gesellschaft und alle Altersgruppen, insbesondere junge Menschen, ansprechen müssen.
Bildquellen
- 2024 european union, election showing a hand voting, photograph of eu election day: Adobe Stock — Michael, KI generiert